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Dürfen Strafen vergessen werden?

Dürfen Strafen vergessen werden?

Haben Straftäter ein Recht darauf, dass ihre Taten vergessen werden?
Recht auf Vergessenwerden für Straftäter

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Bereits 2018 beschäftigte sich der EGMR mit der Frage, wann und ob das Persönlichkeitsrecht von verurteilten Straftätern hinter dem Recht auf Informations- und Pressefreiheit zurückstehen müsse.

Im damaligen sogenannten „Sedlmayr-Fall“ ging es um zwei Männer, die 1990 den bayrischen Schauspieler Walter Sedlmayr ermordeten. Im Rahmen eines Indizienprozesses wurden sie 1993 verurteilt. In den Online Archiven von Deutschlandfunk, SPIEGEL und Mannheimer Morgen waren die Berichterstattungen inklusive Klarnamen im Zeitpunkt der Haftentlassungen, 2007 und 2008, noch für jeden Interessierten zugänglich. Die beiden Verurteilten waren daher der Auffassung, dass es nach 18 Jahren an der Zeit sei, die Artikel herauszunehmen. Nur so könnten sie ein neues Leben nach der Haft beginnen. Dies sahen der Bundesgerichtshof (BGH) und schließlich auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anders. Mit Urteil vom 28.6.18 schlossen sich die Richter des EGMR der Entscheidung des BGH an und räumten damit der Informations- und Pressefreiheit (Art. 10 ERMK) einen höheren Stellenwert ein, als dem Recht auf Privatsphäre (Art. 8 ERMK). Die Öffentlichkeit müsse sich bei einem Mordfall, welcher aufgrund des prominenten Opfers mediale Aufmerksamkeit auf sich zog, auch noch Jahrzehnte später informieren können. Dazu zähle auch, die Namen der Mörder zu kennen, deren Nennung ein Teil der journalistischen Freiheit ist.

Im Juni 2021 war es dann wieder soweit. Erneut war die Frage zu beantworten, ob und inwieweit verurteilte Straftäter auch nach Verbüßen der Haftstrafe mit ihrer Tat im Wege der identifizierenden Berichterstattung konfrontiert werden dürfen. Im aktuellen Fall ging es um die Berichterstattung der belgischen Zeitung „le Soir über einen tödlichen Unfall aus dem Jahre 1994. Die Berichterstattung enthielt auch hier den Klarnamen des damaligen Unfallverursachers und war im Online Archiv der Zeitung für jedermann abrufbar. Der Unfallverursacher ging hiergegen vor - mit Erfolg. Der EGMR entschied, dass ein Recht auf Anonymisierung für den Unfallverursache bestehe. Begründung: Ein Leben ohne Stigmatisierung müsse nach so langer Zeit möglich sein.

Diese Rechtsprechung entspricht auch dem, was das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2019 bereits entschieden hatte. Auch hier ging es um einen Mörder, über dessen Tat mit Klarnamennennung in den 80ern intensiv berichtet wurde. In der Entscheidung, bekannt als „Recht auf Vergessen I“ stellte das BVerfG fest, dass auch hier die Grenze der Presse- und Informationsfreiheit überschritten gewesen sei. Insofern gelte eben nicht „das Internet vergisst nicht“.

Auf den ersten Blick sieht es also so aus, als habe der EGMR sich entschieden, das Recht auf Privatsphäre auch bei Straftaten mit Todesfällen nun höher zu gewichten, als es 2018 der Fall war. Doch dieser erste Blick trügt. Die Gesamtschau der Urteile zeigt hier keinen Richtungswechsel der höchsten Gerichte, sondern vielmehr, dass es sich bei der Frage, wann ein Recht auf Vergessenwerden besteht, um Einzelfallentscheidungen handelt. Dabei spielen die Details der jeweiligen Fälle die entscheidende Rolle. Betrachtet man den Sachverhalt der „Sedlmayr Entscheidung“ und vergleicht diesen mit dem aktuellen Fall, so wird klar, dass sich die Sachverhalte maßgeblich voneinander unterscheiden. Während im Fall von 2018 ein prominenter Schauspieler ermordet wurde, ging es im aktuellen Fall um einen Unfall mit Todesfolge. Auch die Auswirkungen und das Verhalten auf die in den Berichten genannten Personen spielen bei der Abwägung eine Rolle. So suchten die Täter im „Sedlmayr-Fall“ im Jahre 2004 selbst die Öffentlichkeit als sie versuchten, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen. Dies tat der Unfallverursacher des aktuellen Urteils nicht. Vielmehr fürchtete dieser um seine Existenz, da die Möglichkeit bestand, dass ihm als Arzt Patienten abspringen würden, wenn sie von dem Unfall erfahren würden.

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Abwägungskriterien zum Recht auf Vergessenwerden für Straftäter

Aus den Entscheidungen lassen sich daher Grundprinzipien herleiten, die in die jeweilige Abwägung eingestellt werden müssen. Im Grunde sind dies die gleichen Kriterien, die auch bei aktuellen Presseberichterstattungen gelten. Diese sind

  • der Wahrheitsgehalt der Information
  • das Interesse der Öffentlichkeit sowie
  • die Auswirkungen auf die Betroffenen Personen

Im Rahmen vergangener Berichterstattung kommt noch der

  • Faktor Zeit

hinzu.

Je länger ein Geschehen zurückliegt, desto geringer ist in der Regel das öffentliche Interesse an einer entsprechenden Berichterstattung. Insbesondere dann, wenn es nicht zu wiederholten Taten oder dem Aufsuchen der Öffentlichkeit kommt. Dabei haben aber weder BVerfG noch EGMR Richtwerte für zeitliche Grenzen aufgestellt.

Für alle Institutionen und Verlage, die Online Archive betreiben, hat die Rechtsprechung zur Folge, dass es sich lohnt, immer wieder neu zu überprüfen, ob eine identifizierende Berichterstattung noch rechtmäßig ist. Denn die Urteile zeigen deutlich, dass sich dies im Laufe der Zeit verändern kann.

RAF Täter, Opfer & Angehörige
alte Berichte über Straftaten

Gerne werden alte Berichte über Straftaten der RAF wieder veröffentlicht - oft ohne aktuellen Anlass. 

Das führt rechtlich dazu, dass die Betroffenen der Berichterstattung Ansprüche geltend machen könnten, aber nur unter sehr strengen Voraussetzungen.

Personen, die in der Zwischenzeit verstorben sind, können vom postmortalen Persönlichkeitsrecht geschützt sein, wenn die Berichterstattung stigmatisierend und ehrverletzend ist. Dieses Recht kann selbstredend jedoch nur von den Angehörigen geltend gemacht werden, dürfte aber in den meisten Fällen ausscheiden, da sich dieses Recht im Laufe der Zeit immer weiter abschwächt.

Für die noch lebenden Personen müssen wir differenzieren.

Personen, die in der Vergangenheit straffällig wurden, haben nach einer gewissen Zeit ein Recht darauf, nicht mehr mit dieser Tat öffentlich konfrontiert zu werden, insbesondere wenn sie ihre Strafe verbüßt haben und keine Relevanz für die Öffentlichkeit in Bezug auf eben diese Personen mehr besteht.

Dieses Recht wurde u.a. durch das "Spiegel Online"-Urteil des BVerfG (2019) und durch Urteile des EuGH (z.B. Google Spain, 2014) gestärkt.

Eine erneute Veröffentlichung ohne aktuellen Anlass kann als Eingriff in dieses Recht gewertet werden.

Stichwort: Abwägung: Öffentliches Interesse vs. Persönlichkeitsschutz

Die Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) erlaubt grundsätzlich eine Berichterstattung über Straftaten.

Aber: Wenn die Tat lange zurückliegt und es keinen neuen Anlass gibt, überwiegt meist das Rehabilitationsinteresse der betroffenen Person.

Kriterien der Abwägung sind z.B.:

  • Wie lange liegt die Tat zurück?
  • Wurde die Strafe verbüßt? Ist das in allen Fällen so, dann erhöhter Schutz der Betroffenen der Berichterstattung.
  • Ist die Person heute noch öffentlich relevant? Wenn nein, dann erhöhter Schutz der Betroffenen der Berichterstattung.
  • Besteht ein aktuelles Informationsinteresse der Öffentlichkeit? Das wäre der Fall, wenn es einen aktuellen Anlass gäbe - Jubiläum reicht nach meinem (KG) Dafürhalten nicht.

Damit solche Ansprüche jedoch durchsetzbar sind, müssen regelmäßig folgende Punkte gegeben sein:

  • Kein aktueller Berichtsgrund (also kein öffentliches Interesse).
  • Identifizierbarkeit (Name, Foto, Umstände).
  • Ehrverletzende oder stigmatisierende Darstellung
  • Spürbare Betroffenheit der Angehörigen (z. B. Rufschädigung, psychische Belastung) 

RAF-Opfer in der Berichterstattung

Besonderen Schutz kommt den Opfer zugute, die unverschuldet in Straftaten verwickelt und über die berichtet wurde. Zu nennen sind hierbei insbesondere Einsatzkräfte wie Polizisten oder Freunde und Bekannte, die keinerlei Bezug zur RAF hatten. Diese sollten anonymisiert werden, wenn Jahrzehnte nach der Tat alte Berichte nahezu unverändert wieder publiziert werden, ohne dass ein aktueller Anlass besteht. 

 

Fazit:

Auch Straftäter haben ein Recht darauf, mit ihren Taten vergessen zu werden – auch im Internet.

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Ansprechpartner

Karsten Gulden
Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht LL.M. und Mediator

Karsten Gulden ist Rechtsanwalt & Mediator; Mitgründer und Gesellschafter der Kanzlei gulden röttger rechtsanwälte, Fachanwalt für Urheber- und Medienrecht seit 2009, Wahlfachprüfer beim Justizministerium Mainz/Rheinland-Pfalz und Mitglied im NetzDG-Prüfausschuss der FSM.
Zudem ist er ein Familienmensch, der das Klettern, die Berge & das Campen liebt. Die meiste freie Zeit verbringt er mit der Familie & den Pferden in freier Natur.

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